Sascha Nikolas Berger
Wer nur den lieben Gott lässt walten...
Ich sitze wieder einmal im Zug, rausche durch die Republik und dem beginnenden Tag entgegen. Eines meiner Rituale im Zug: Kopfhörer in die Ohren, Random-play gedrückt und sich überraschen lassen. Dieses mal erwischt es mich wieder richtig. Der Rechner hat BWV 93 ausgewählt, Bachs wunderbare Kantate „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ und schon sprudeln die Gedanken in Saschas Hirn. Eigentlich doch nun wahrlich eine wunderbare Aussage und Einladung, der man doch all zu gerne folgen möchte. Aber dann sind da immer wieder die Sorgen und die Fragen die sich uns in den Weg stellen. Manchmal passen auch einfach die Bilder des Lebens nicht dazu. „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ Ich denke an meine beiden letzten Einsätze als ehrenamtlicher Richter; sexueller Missbrauch in der Familie und ein anderes mal der Vorwurf einer Vergewaltigung. Ob den jeweiligen Opfern wohl die hier betrachtete Aussage locker-flockig über die Lippen kommen würde? Ich weiss es nicht. „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ Ob sich die Kinder, Frauen und Männer in den Krisengebieten vertrauensvoll in diesen Satz geben würden? Ich weiß auch dieses nicht. „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ Wie passt das zu den Bildern des Mittelmeeres, wie zu den Flüchtlingslagern auf der Welt, wie zu dem Hunger und dem Elend in der 3. Welt? Ich finde auch hier wieder keine Antwort. "Wer nur den lieben Gott lässt walten…" Übersetzt soll das wohl nun so in etwa heißen: „Sorgt Euch nicht!“ - tja, wenn das mal so einfach wäre. Jeder von uns hat seine eigenen Sorgen und Nöte, besonders jetzt, in diesen „verrückten Corona-Zeiten.“ Seine eigenen Sorgen braucht man noch nicht einmal in Vergleich zu etwas anderem oder zu anderen setzen; Angst um den eigenen Job, woher kommt das Geld, Essen, Trinken, gesellschaftliche Teilhabe, Bildung, Chancen; die Sorgen äußern sich mannigfaltig. Manch einem fällt es wahnsinnig schwer, Entscheidungen zu treffen. Und trotz aller Sorgen geht das Leben immer irgendwie auch weiter, oder nicht? Vielleicht nicht immer einfach und unbeschwerlich, aber seien wir doch auch einmal ehrlich, viele von unseren Gedanken, von unseren Sorgen haben wir eine zeitlang später wieder vergessen, sind nicht mehr präsent, oder etwa nicht? Und genau hier lohnt es sich einmal genauer hinzuschauen, nachzuspüren. Was genau ist geschehen, wie sind diese Sorgen und Nöte ggfs. wieder in den Hintergrund getreten? Hat mir jemand geholfen? Habe ich mir selber geholfen? Uns ist kein einfaches Leben versprochen worden und vieles haben wir auch selber in den Händen. Wir können immer eines: Wir können unsere eigenen Talente nutzen; für uns aber eben auch für andere. Fürsorge für sich und auch die Fürsorge für andere kann so vieles sein. Es kann ein freundliches Wort sein (übrigens auch gerne mal eines zu sich selber), es kann eine Spende sein, es kann ein ehrenamtliches Engagement sein, es kann einfach nur gemeinsame Zeit sein, ein Wort des Trostes, eine Hand am Ende des Lebens die einfach nur eine andere hält, ein freundlicher Blick. Es gibt so vieles zu tun. Wenn wir uns um andere kümmern, dann kümmern sich auch andere um uns, wenn wir dafür Sorgen, dass andere Gerechtigkeit erfahren, kommt die Gerechtigkeit zu uns, wenn wir anderen Liebe schenken, kommt die Liebe auch zu uns, wenn wir anderen durch das Leben helfen, hilft man auch uns durch das Leben,es ist ein immerwährender Kreislauf, fast schon eine Gesetzmäßigkeit. Nur muss man sich darauf einlassen, man muss vertrauen können, loslassen können. “Wer nur den lieben Gott lässt walten” - es ist eine Einladung, ein Versprechen. Wenn wir uns trotz aller Heftigkeit der individuellen Sorgen ein Stückweit von ihnen lösen können, dann kommt die Hilfe in irgendeiner Form auch zu uns, werden wir mitunter auch zur Hilfe für andere. Dann waltet der liebende Gott in uns und durch uns. Ach, wenn unser eigener Glaube nur viel größer wäre…

Foto © Sascha Nikolas Berger